Automatisierung

06.02.2014 12:35

Zeitung aus dem Autopiloten

In London erscheint seit Herbst letzten Jahres eine Wochenzeitung, deren Inhalte weitgehend ohne menschliches Zutun kuratiert und deren Design völlig automatisiert erstellt wird. Sie könnte ein Versuch bleiben. Oder zu einem medialen Umbruch beitragen.

Long Good Read: Papier aus Algorithmen. © Newspaper Club

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Es ist alles nur vorläufig. Die Zeitung und auch der Ort, an dem sie erhältlich ist. Letzteres zumindest bemerkt sofort, wer in London die Shopping Mall „Boxpark Shoreditch“ besucht: gebaut ist sie nicht aus Beton, Stahl und Glas wie all die anderen Einkaufszentren, sondern ausschließlich aus metallenen Baucontainern. 40 so genannte Pop Up Stores, meist Modegeschäfte und Cafés geben der Metallhülle ihre Struktur. 2011 wurde die Mall gegründet. 2015 wird sie wieder verschwinden. Geplante Vergänglichkeit. Das ist das Konzept.

Unter den 40 Geschäften, Bars und Restaurants findet sich auch das Guardian Café, ein Ort, an dem sich die Leser der wahrscheinlich wichtigsten britischen Zeitung treffen. Auf jedem Tisch ist ein Bildschirm montiert, darauf können die Besucher die Online-Ausgabe des „Guardian“ oder die App durchschmökern. Seit November hat sich neben der digitalen Zeitung auch die papierne eine Nische erkämpft in dem Café. In einem hölzernen Zeitungsständer liegen Dutzende Exemplare einer vom Guardian in einer Auflage von 500 Stück gedruckten Wochenzeitung mit dem programmatischen Namen „The Long Good Read“. Gratis, wie schon das Pappschild auf dem Zeitungsständer verrät: „Free newspapers for all of our sexy customers!“.

Das lange Lesen

An dieser Stelle aber verlässt das Projekt den Pfad des Gewöhnlichen. „The Long Good Read“ ist ein kluges Experiment, das die Regeln des medialen Produktionsprozesses aushebelt. Auf den ersten Blick mag „The Long Good Read“ zwar eine Wochenzeitung wie viele andere sein: Lange, mit sprachlichem Plüsch verkleidete Geschichten, feuilletonistisch meist; ein Layout, das simpel, aber elegant ist, 24 Seiten dick, auf 2 Gramm-Zeitungspapier gedruckt. Die Inhalte kommen alle vom „Guardian“, es ist eine „Best of“-Komposition von „Guardian“-Storys, die über 1.000 Wörter lang sind. Was der Leser aber nicht zu vermuten wagen würde: „Für die gesamte Produktion benötigen wir eine Stunde und es braucht dazu nur einen Layouter“, erzählt Tom Taylor, Mitbegründer des Londoner „Newspaper Club“, einer Zeitungsmanufaktur, die sich auf digital produzierte Zeitungen und Web to Print-Projekte spezialisiert und gemeinsam mit der Redaktion des „Guardian“ das Projekt ausgeheckt hat.

Redakteur Robot

Möglich ist eine so kurze Produktionszeit, weil „The Long Good Read“ bis in jede Papierfaser ein digitales Produkt ist, dessen Inhalte, dessen Design, dessen redaktionelle Dramaturgie von Alogrithmen und Robots bestimmt ist. „Wir haben einen Robot entwickelt, der die Storys aus dem `Guardian´ nach bestimmten Kriterien scannt und danach die Auswahl trifft, welche Geschichten auch im `Long Good Read´veröffentlicht werden sollen“, erklärt Tom Taylor gegenüber 4c. Eine Rolle spielt nicht nur die Länge des Artikels, sondern auch dessen außergewöhnliche Klickraten oder seine Nennung in szialen Netzwerken wie Twitter. „Wenn eine Filmkritik etwa in einem bestimmten Zeitraum drei Mal öfter angeklickt wurde als es bei Filmkritiken im `Guardian´ sonst erwartet werden kann, wäre das schon mal ein Grund, diese Geschichte auch im `Long Good Read´ abzudrucken.“, so Taylor. Der kleine Robot muss mit einer Menge an Bedingungsformeln programmiert worden sein: täglich produziert die Redaktion des „Guardian“ rund 400 Geschichten online, in das 24 Seiten-Blatt, das im Café ausliegt, passen pro Woche aber nur ein, zwei Dutzend Geschichten.

Art Director Arhtr

Die arithmetisch bedingte Mechanik der Algorithmen übernimmt beim „Long Good read“ nicht nur das inhaltliche Kuratieren, sie ersetzt auch menschliche Kreativität beim Designprozess. Dazu haben die Tüftler des „Newspaper Club“ gemeinsam mit jenen des „Guardian“ ARHTR erfunden. ARHTR gießt die Texte samt der Bilder in das Layout, ganz ohne menschliches Zutun. „Der Layouter macht am Ende nur einige wenige Korrekturen, optimiert vielleicht da und dort noch eine Seite. Das ist eben in einer Stunde machbar“, sagt Taylor. „Uns zeigt dieses Experiment, dass die Arbeit des Print-Designers sich zunehmend der des Web-Designers nähert. Dessen Arbeit besteht ja auch in erster Linie darin, einen funktionellen Rahmen, ein grundlegendes Modell zu schaffen, das dann befüllt wird“, sagt Taylor.

Inserate erscheinen in der Zeitung, die da jede Woche frisch aus dem Autopiloten kommt, nicht. „Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht. Aber das kommt noch“, sagt Taylor. Bisher ist „The Long Good Read“ nur ein Papier gewordenes Labor für ein Medienkonzept, das vielleicht künftig unter anderem Namen, in anderer Form zur ökonomischen Serienreife ausgebaut wird. Möglicherweise wird „The Long Good Read“ wieder eingestellt, wenn auch das aus Containern zusammen gestapelte Einkaufszentrum in London wieder abgebaut und das Guardian-Café damit geschlossen werden muss. Aber die Idee, die wird nicht mehr verschwinden.

Martin Schwarz

(4c Printausgabe 1/2014)

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