Zeitungsmarkt

22.10.2016 00:10

Nichts gewonnen, viel verloren

Die US-amerikanische Zeitungsindustrie hat in den letzten 20 Jahren Milliarden in den Sand gesetzt. Wie? Indem sie in ihre Webauftritte investiert hat. Das jedenfalls behauptet eine Universitätsprofessorin aus Texas, die mit ihrer Studie eine der schärfsten Mediendebatten der letzten Jahre ausgelöst hat. 4c hat exklusiv mit der Studienautorin gesprochen.

Journalismus-Professorin Iris Chyi: „Die meisten Zeitungleser sind noch immer an das Printprodukt gebunden. Aber das wird nicht mehr lange der Fall sein, wenn die Qualität weiter sinkt.“ © I-Hwa Cheng

Web-Links Die Studie im Wortlaut
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Iris Chyi und Ori Tenenboim von der Universität Austin in Texas müssen derzeit viel Widerspruch aushalten. Seit das US-Nachrichtenportal Politico über die jüngste Studie der beiden Journalismus-Professoren berichtet hat, schwillt in den USA eine heftige Diskussion über die zentrale These des Papiers an.

Die ist von einiger Brisanz: US-amerikanische Zeitungen haben in den letzten Jahrzehnten durch ihre Konzentration auf das Web und die digitale Verbreitung ihres Contents Milliarden in den Sand gesetzt, ihre Print-Ausgaben vernachlässigt und durch mit Werbung überfrachtete und schlecht designte Websites bisher zahlende Leser zu digitalen Flüchtlingen gemacht, die sich nun lieber bei großen Nachrichtenportalen und News-Aggregatoren informieren.

In einem Umfeld, in dem schon längst nicht mehr hinterfragt wird, ob Pixel wirklich in jedem Fall Papier überlegen sind, ist die Studie der Universitätsprofessoren gleichbedeutend mit einem intellektuellen Hacker-Angriff auf selbst geschaffene Gewissheiten. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob sich der vermeintliche Rettungsanker Web vielleicht nicht doch eher als Mühlstein erweist, der die Zeitungsverlage in die Tiefe zieht.

Da gingen die Wogen natürlich hoch, etwas bizarre historische Vergleiche mit eingeschlossen: „Zu behaupten, Zeitungen hätten die falsche Entscheidung getroffen, als sie sich auf das Digitale konzentrierten, ist vergleichbar mit einer Debatte über die strategischen Optionen der polnischen Armee 1939“, twitterte ein Redakteur der Huffington Post.

Chyi und Tenenboim jedenfalls haben sich anhand von 51 US-amerikanischen Lokalzeitungen mit einer Auflage von jeweils über 120.000 Exemplaren genau angesehen, ob die digitale Konzentration auf dem Lesermarkt etwas gebracht hat. Die Antwort vorweg: nein, ganz und gar nicht. Und sogar eher im Gegenteil. Die Reichweite der Printausgaben der untersuchten Zeitungen ist zwischen 2007 und 2015 von 42,7 auf 28,8 Prozent gefallen. Die Online-Reichweite der Zeitungswebsites ist aber in dem gleichen Zeitraum stagniert, sie stieg nur von 9,8 auf 10 Prozent. „Wir glauben also nicht, dass die Leser das Printprodukt zugunsten der Websites der Zeitungen aufgegeben haben“, so Chyi gegenüber 4c.

Dabei scheinen die Zeitungen online in den letzten Jahren sogar wieder zu verlieren: 2011 lag die Reichweite immerhin schon einmal bei 10,7 Prozent. 

Besonders bitter für die Regionalverlage muss sein, dass sie mit ihren Websites eben keineswegs ihre künftige Zielgruppe, die Millenials, an sich binden können. Die Reichweite ihrer Online-Ausgaben beträgt in der Altersgruppe der 18 bis 24jährigen nur 7,8 Prozent. Die Reichweite der Printausgaben in dieser Zielgruppe allerdings beträgt immerhin 19,9 Prozent. Dieses Verhältnis zwischen Print-Reichweite und Online-Reichweite setzt sich in allen Altersgruppen fort. Bei keiner einzigen kommt die Online-Reichweite auch nur annähernd an jene der gedruckten Zeitung heran. 

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Durch mit Werbung überfrachtete Websites und schlechtes Design hätten die lokalen Zeitungen ihre Leser zu den Tech-Giganten vertrieben, zu Google, zu Yahoo News, zu anderen News-Aggregatoren. Gegen die anzukommen, hält Chyi für unmöglich: „Sie haben nicht die Erfahrung, sie haben nicht die Ressourcen. Eigentlich ist es, als würde ein Steakhouse mit McDonalds im Fastfood-Markt konkurrieren wollen“.

Das Design der Websites sei „mit den Jahren noch schlechter geworden, weil sie immer mehr Werbeformen verwenden“, sagt Chyi. Natürlich könnten die Zeitungen das jetzt ändern. Aber der Schaden sei schon angerichtet.

Paywalls hält Chyi für die regionalen Zeitungen nicht unbedingt für eine Lösung. Weil sie zu spät kämen und die Gratiskultur schon längst gewonnen hätte. Und weil es genügend Alternativen zu den Webauftritten der Regionalzeitungen gäbe, so Chyi gegenüber 4c: „Es gibt ein Überangebot an News und Enterntainment online. Das einzige, was eine Paywall eben ausrichten kann, ist die Exklusivität von Inhalten aus den Printausgaben zu sichern.“

Wie man den Schaden jetzt wieder beheben könnte? Wahrscheinlich mit einer recht unbarmherzigen Evaluierung. „Die Verlage sollten sich ganz ehrlich ihre Performance in den letzten 20 Jahren ansehen und dann jenes Produkt prioritär behandeln, das ihre Leser bevorzugen. Und das ist unserer Studie nach eben die gedruckte Zeitung“, sagt Chyi gegenüber 4c.

Seit 2005 haben amerikanische Zeitungsverlage 25.000 Journalisten verloren. Die meisten von ihnen arbeiteten für die Printausgaben. 

Martin Schwarz

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Lesen Sie hier das erste Kapitel des neuen Buchs von Iris Chyi über den US-Zeitungsmarkt. 

Chapter 1 (Trial and Error: US Newspapers‘ Digital Struggles Toward Inferiority by Iris Chyi) by H. Iris Chyi on Scribd

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